Kai Focke „Ein seltsamer Feierabend“
Mit seinen Literaturfragmenten ist Kai Focke schon seit mehreren Jahren in der Literatur – speziell in der Phantastik (von ihm auch liebevoll Schmunzelphantastik genannt) und Science Fiction – unterwegs. In der dritten Ausgabe der Weltenportal konntet ihr seine Geschichte „Die Überlegenheit natürlicher Intelligenz“ lesen. Auch in der vierten Ausgabe wird es eine Geschichte von Kai geben. Um euch einen kleinen Vorgeschmack zu geben, könnt ihr hier vorab bereits einen kleinen Abschnitt lesen:
Ein seltsamer Feierabend
Ein Pfeifen erklang. Hendrik Bergmann legte beide Hände schützend vor das Helmvisier. Im Schritttempo passierte sein SmartMobil die Schrankenanlage und wurde dabei von allen Seiten mit UV-Licht entkeimt. Ein zweiter Pfeifton signalisierte das Ende des Vorgangs und gab die Weiterfahrt zum Tiefgaragenstellplatz frei. Leise seufzend stieg Hendrik aus und schritt durch einen schmalen Gang zum nächstgelegenen Fahrstuhl. Er war müde, doch zumindest etwas Gutes hatten die Überstunden: Spät abends bildeten sich nirgendwo Schlangen. Er konnte die in Drei-Meter-Intervallen auf dem Boden angebrachten Abstandsmarkierungen einfach durchlaufen und ohne lästige Warterei den Fahrstuhl betreten. Auf dem Höhepunkt der aktuellen CP-2N-Pandemiewelle war die maximal zulässige Personenzahl auch hier auf eins gesenkt worden.
»Stockwerk 37, Bereich C«, instruierte er das System.
Während der Fahrt warf er einen Blick auf die über den Schiebetüren angebrachte Laufschrift. Sie wies auf eine dreiwöchige Quarantäne des B-Bereichs seiner Stockwerksebene sowie auf eine Ausgangssperre am kommenden Samstagvormittag hin. Letztere galt für den gesamten Gebäudeabschnitt. Treppenhäuser und Flure sollten chemisch grundgereinigt und frische Lockstofffallen ausgelegt werden. Schulterzuckend nahm er die Hinweise zur Kenntnis. Das Wochenende würde er ohnehin größtenteils schlafend im Bett verbringen. Er fühlte sich schon heute völlig erschlagen – dabei war erst Mittwoch.
»Mindestabstand in privaten Bereichen: einhundertfünfundsiebzig Zentimeter!«, informierte das System über die aktuell gültige Hygieneverordnung.
Ein halber Meter mehr als gestern?, ging es Hendrik durch den Kopf.
Er hatte bei den häufigen Änderungen innerhalb der letzten Wochen den Überblick verloren. Der Hygiene-Rat wird schon seine Gründe haben.
Beim Verlassen des Fahrstuhls schlug ihm ein strenger Ethanol-Geruch entgegen. Offensichtlich waren die Duftspender in den Fluren noch immer defekt. Aber auch das störte ihn nicht. CP-2N und die übrigen derzeit im Umlauf befindlichen Erreger übertrugen sich lediglich als Schmierinfektion. Solang der Visierhelm ausreichte und er nicht, wie das Frühjahr hindurch, eine geschlossene Atemmaske tragen musste, war ihm der strenge Geruch herzlich egal. Erneut seufzend erreichte er die Schleuse vor seiner Wohnung.
»Beginn der Dekontamination«, leitete das System die Standardprozedur ein.
Die Schleusentür schloss sich hinter ihm und Mikrodüsen versprühten einen nach Rosen duftenden Desinfektionsnebel.
»Dekontamination aktiv: Einwirkzeit abwarten!«, erinnerte das System.
Hendrik geduldete sich bis die Kontrolllampe grün leuchtete. Erst jetzt nahm er den Visierhelm ab und schälte sich aus dem Schutzanzug. Er legte beides in den Entsorgungsschacht, lockerte kurz die verspannte Nackenmuskulatur und zwängte sich in die Duschkabine. Nachdem er sich vollständig mit antibakterieller Seife eingeschäumt und abgebraust hatte, schlüpfte er in seinen bequemen Ganzkörper-Hausanzug, setzte eine leichte Mund-Nase-Maske auf und zog atmungsaktive Handschuhe an. Vor der Freigabe zum Betreten der Wohnung überprüfte das System routinemäßig die Körpertemperatur.
»36,8 Grad Celsius: Messwert unbedenklich.«
Die Schleusentür öffnete sich.
»Hallo, Schatz«, rief er in den Flur hinein. »Feierabend!«
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Falls ihr auf den Geschmack gekommen seid, schaut doch auf Kais Homepage vorbei: https://literaturfragmente.jimdofree.com/